Die Digitalisierung ist längst kein Zukunftstrend mehr, sondern ein Mainstream-Thema, das branchenübergreifend auf allen Managementebenen die Diskussion beherrscht. Viele sehen in der digitalen Transformation den Hebel für Unternehmenswachstum und Erneuerung. Zahlreiche Digitalisierungsinitiativen bleiben jedoch weit hinter den wirtschaftlichen Erwartungen zurück, oder scheitern sogar und verursachen damit erhebliche Kosten (“sunk costs“).
Das verdeutlicht, dass die Erarbeitung einer wirksamen, evidenzbasierten Digitalisierungsstrategie ein anspruchsvolles Unterfangen ist. In diesem Artikel möchten wir mit Ihnen unsere Gedanken dazu teilen, wie Sie diese Herausforderung erfolgreich meistern und eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie entwickeln.
Zunächst einmal ist es wichtig, die relevanten Begriffe eindeutig und korrekt zu verwenden. Die englische Sprache ist hier präziser, denn sie unterteilt den Digitalisierungsbegriff in “Digitization“ und “Digitalization“. Häufig werden diese Begriffe auch fälschlicherweise synonym zu “digitaler Transformation“ verwendet.
Die digitale Transformation stellt die Art und Weise, wie ein Unternehmen Werte schafft und an den Kunden bringt, grundlegend in Frage und verändert diese meist maßgeblich. Daher ist es kaum verwunderlich, dass ein solcher Transformationsprozess auch eine Evolution der kulturellen DNA des Unternehmens und seiner Fähigkeiten und Kernkompetenzen erfordert.
Aus den obigen Definitionen wird klar, dass die Begriffe Digitization, Digitalisierung und digitale Transformation als verschiedene Punkte auf einer Skala für den Innovationsgrad interpretiert werden können. Das untere Ende der Skala repräsentiert die “Digitization“, welche meist inkrementelle Verbesserungen mit sich zieht. Am oberen Ende steht die digitale Transformation, welche radikale Innovationen erfordert, neue Möglichkeiten eröffnet und bestehende Branchenlogiken völlig auf den Kopf stellen kann.
Diese Unterscheidung ist nicht akademisch, sondern hat praktische Konsequenzen: Sie unterstreicht nämlich die orchestrierende Rolle, die eine Digitalisierungsstrategie bei der Koordination der Innovationsinitiativen auf allen Ebenen spielen muss. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage: Wie können wir eine solch integrierte, erfolgreiche “Digitalisierungsstrategie“ formulieren?
Der Einsatz digitaler Technologien ist kein Selbstzweck, er ist ein Mittel zu einem höheren Zweck und muss daher gerechtfertigt werden. Die Rechtfertigung liegt in dem zusätzlich geschaffenen Kundenwert, der im Zentrum jeder Digitalisierungsstrategie stehen muss. Die Schaffung von Kundenwert wiederum setzt voraus, dass das Unternehmen analysiert, welche Bedürfnisse seine Zielkunden haben, welche dieser Bedürfnisse derzeit untererfüllt sind, und welche davon relevante Ziele für Digitalisierungsinitiativen sein können. Anders ausgedrückt: Nicht die verfügbaren digitalen Technologien, sondern die untererfüllten Kundenbedürfnisse leiten die Definition einer effektiven Digitalisierungsstrategie.
Nur wenn eine digitale Technologie die Lösung für ein untererfülltes Bedürfnis bereitstellen kann, schafft Digitalisierung einen Mehrwert für den Kunden. Andernfalls ist sie lediglich ein Ausdruck von “Happy Engineering“ – und dies ist wohl kaum ein erstrebenswertes Ziel. Denn Kunden sind in der Regel nicht bereit, mehr für ein neues Produkt oder Service zu bezahlen, wenn dieses keinen Mehrwert für sie schafft. In Jobs-to-be-Done Sprache ausgedrückt heißt das: wenn das Produkt den Kunden oder die Kundin nicht dabei unterstützt, einen bestimmten “job-to-be-done“ schneller, mit besseren Ergebnissen oder effizienter zu erledigen.
Bilden Kundenbedürfnisse den Ausgangspunkt der Digitalisierungsstrategie, dann können Entscheidungsträger auch sicherstellen, dass alle nachfolgenden Überlegungen in Bezug auf die Digitalisierung (zum Beispiel welche digitalen Technologien eingesetzt werden sollen, welche Lösungen integriert werden sollen, etc.) auf die Schaffung von Kundennutzen ausgerichtet sind.
Die Jobs-to-be-Done Denkweise (JTBD) bietet ein Framework, um unerfüllte Kundenbedürfnisse zu erkennen und zu verstehen. JTBD analysiert die Aufgabe (= “Job“), die ein Kunde zu erledigen versucht, wenn er ein bestimmtes Produkt oder Service verwendet. Das JTBD-Framework wird praktisch mit dem Outcome-Driven Innovation®-Prozess umgesetzt. Dieser schrittweise Prozess beginnt mit der Ermittlung von Kundenbedürfnissen auf einem sehr detaillierten Level. Anschließend wird validiert, welche dieser Bedürfnisse in welchem Ausmaß unerfüllt sind.
Das resultierende Datenmodell erlaubt es, den Markt so zu segmentieren, dass Kundengruppen mit unterschiedlichen Bedürfnisprioritäten identifiziert werden können (wenn Sie mehr darüber wissen wollen, empfehlen wir das White Paper “Outcome-Based Segmentation“ sowie weitere Publikationen, die Sie auf unserer Website finden).
Nach diesem Schritt wird jedes der identifizierten untererfüllten Bedürfnisse bewertet: Ziel ist es zu verstehen, ob beziehungsweise welche digitalen Technologien geeignet sind, das identifizierte untererfüllte Bedürfnis besser zu erfüllen. Jegliche Überlegungen, auf welche digitalen Technologien man sich aus strategischer Sicht konzentrieren sollte, erfolgen erst nachdem ein umfassendes Verständnis für die “pain points“ der Kunden geschaffen wurde.
Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass der Begriff “Kunde“ in diesem Zusammenhang eine umfassendere Definition hat. Er umfasst nicht nur Konsumenten, sondern auch interne Stakeholder und Lieferanten. Somit kann der JTBD-Ansatz auch angewendet werden, um interne Innovationspotenziale zu identifizieren, für die digitale Technologien einen Mehrwert schaffen könnten, z.B. um die Fehlerquote zu verringern, Kosten zu reduzieren oder die Effizienz in internen Prozessen zu steigern.
Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Digitalisierungsstrategien oft von Mitarbeiterinnen verschiedener hierarchischer- und Entscheidungsebenen entwickelt werden, wollen wir anhand einiger Beispiele kurz aufzeigen, wie jede Ebene die Ergebnisse des Strategiebildungsprozesses mit Hilfe der Jobs-to-be-Done Denkweise verbessern kann.
Produktmanager haben einen starken Fokus auf das Produkt oder die Dienstleistung, für die sie verantwortlich sind. Fragen, die für sie relevant sein könnten, sind beispielsweise: “Wie können digitale Technologien meinen Kunden helfen, den “Job“, der hinter dem Produkt oder Service steht, besser zu erledigen?“. Oder: “Wie können digitale Technologien Kunden bei der Integration, Nutzung und Entsorgung meines Produkts unterstützen?“.
Ein Produktmanager für elektronische Zahnbürsten könnte zum Beispiel den job-to-be-done “Zähne gesund erhalten“ analysieren und in diesem Zuge herausfinden, dass untererfüllte Bedürfnisse rund um Zahnfleischverletzungen und unzureichende Plaque-Entfernung bestehen. Wenn diese Bedürfnisse klar formuliert werden, qualifizieren sich digitale Technologien wie Plaque-Erkennungssensoren, Coaching-Apps und Zahnputz-Analysen als digitale Lösungsräume für intelligente Zahnbürsten – mit guten Chancen, einen echten Mehrwert für Kunden zu schaffen.
Funktionsbereichsmanager mit ihrem starken Fokus auf interne Prozesse fragen sich im Hinblick auf Digitalisierung, wie digitale Technologien durch Kostensenkung oder Effizienzsteigerung mehr internen Wert schaffen. So könnte ein Beschaffungsmanager beispielsweise den job-to-be-done “einen Vertrag mit einem Lieferanten abschließen“ analysieren und dabei kritische Zeitverzögerungen beim Einholen der Unterschriften beider Parteien aufdecken. Einmal festgestellt, ist dieses untererfüllte Bedürfnis der Startpunkt für die Entwicklung und Anwendung digitaler Signaturtechnologien wie Docusign, welche die Effizienz rund um den Vertragsabschluss verbessern.
Manager auf dieser Ebene haben einen Fokus auf Synergien und die gemeinsame Wertschöpfung des Produkt-/Service-Ökosystems. Daher suchen sie nach Antworten in Bezug darauf, wie mit Hilfe digitaler Technologien ein integriertes System geschaffen werden kann, welches Kunden dabei hilft, mehr Aspekte des betrachteten job-to-be-done zu erledigen.
Beispielsweise könnte ein Manager eines Online-Einzelhandels für Mode- und Lifestyle-Produkte sich das Ziel gesetzt haben, mehr Wert durch seine E-Commerce-Plattform zu schaffen. Nach der Analyse des “Jobs“, der mit dem Kauf eines Produkts verbunden sind, könnten zum Beispiel folgende oder ähnliche untererfüllte Bedürfnisse identifiziert werden: “Auswahl des passenden Kleidungsstils für spezifische Anlässe“, “Finden von Kleidung, die zu dem individuellen Stil und der eigenen Garderobe passen“, sowie “trendy und modern gekleidet sein“.
Sind diese Bedürfnisse einmal erkannt, dann können digitale Technologien und Lösungen wie Zalando’s persönlicher Shopping-Assistent “Zalon“ dahingehend beurteilt werden, ob sie geeignet sind, Kunden bei diese sogenannten “related jobs“ zu unterstützen und damit zusätzlichen Wert zu schaffen.
Manager dieser Entscheidungsebene fragen sich typischerweise, wie digitale Technologien die Schaffung neuer digitaler Geschäftsmodelle ermöglichen.
Zum Beispiel könnte eine New Business-Venturing-Managerin daran interessiert sein, zu verstehen, wie man das Private-Banking-Geschäft digital disruptieren kann, so wie es N26 getan hat. Eine tiefgreifende JTBD-Analyse wird in diesem Fall klären, welche “Jobs“ Kunden im Private Banking erledigen wollen, und wo traditionelle Bankinstitute dabei versagen, diese Kundenbedürfnisse optimal zu erfüllen.
Darüber hinaus wird die JTBD-Analyse aufzeigen, ob es ein Segment von ausreichender Größe gibt, das “überversorgt“ in dem Sinne ist, dass es auch durch ein “abgespecktes“, simpleres Angebot zufriedengestellt werden kann, wie es z.B. eine vollständig digitale Bank bieten würde. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, sich auf eine begrenzte Anzahl von digitalen Banktechnologien zu konzentrieren, die für diese Zielkunden relevant sind, und zu bestimmen, welche Partner erforderlich sind, um das Mindestmaß an erforderlichem Service vor Ort zu liefern.
Um allen Mitarbeitern im Unternehmen die nötige strategische Orientierung zu geben und auch ein entsprechendes strategisches Monitoring zu installieren, empfiehlt es sich, eine formale Digitalisierungsstrategie einzuführen. Dazu gehört die Definition der Zielkunden (intern und extern) und der entsprechenden jobs-to-be-done, auf die die Digitalisierungsaktivitäten abzielen sollen (= das “Was“).
Die formale Digitalisierungsstrategie definiert auch die wirtschaftlichen und damit verbundenen Ziele, die mit den Digitalisierungsinitiativen in einem bestimmten Zeitraum erreicht werden sollen (das “Warum“).
Und schließlich enthält eine formale Digitalisierungsstrategie auch grundlegende Hinweise auf bevorzugte Technologien und Programmaktivitäten, einschließlich des gewünschten Innovationsgrads, des akzeptablen Risikos und der Rolle von Partnerschaften und Allianzen (das “Wie“).
Einerseits eröffnet die Digitalisierung unzählige Chancen für Unternehmen in fast allen Branchen, andererseits bringt sie auch zahlreiche Risiken und Aufwände mit sich, z.B. Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes, potenzielle Cyberangriffe, zusätzliche Anstrengungen zur Einhaltung von Datenschutzbestimmungen. Außerdem forciert es die digitale Transformation, dass Unternehmen mit anderen Unternehmen in Netzwerken zusammenarbeiten, weil digitaler Mehrwert für Kunden oft erst in Kooperation möglich gemacht werden kann. Es ist unnötig zu sagen, dass dies eine erhöhte Komplexität und eine verstärkte Abhängigkeit von externen Partnern zur Folge hat.
Das Hinzufügen digitaler Komponenten zu einem Produkt kann dieses auch komplexer oder fehleranfälliger machen, vor allem wenn es in ein umfassendes Produkt-Ökosystem integriert ist. Dies wiederum kann einen höheren Lernaufwand seitens der Kunden erfordern. Darüber hinaus ist die Kundenakzeptanz von digitalen, automatisierten Lösungen nicht selbstverständlich gegeben: Emotionale Bedürfnisse, Selbstwahrnehmungen und Bedenken könnten die Adoption neuer digitaler Angebote verzögern und müssen ebenfalls berücksichtigt werden.
Die erfolgreiche Definition und Umsetzung einer Digitalisierungsstrategie erfordert daher den rechtzeitigen Aufbau der erforderlichen Fähigkeiten und das Monitoring der Reaktionen auf die Digitalisierungsinitiativen von Kunden, Lieferanten, Wettbewerbern und Mitarbeitern. Wir empfehlen daher Führungskräften, die eine digitale Transformation ihres Unternehmens anstreben, sich nicht nur auf die technologischen Aspekte zu konzentrieren, sondern insbesondere auch den kulturellen und sozialen Wandel zu berücksichtigen, der diesen Entwicklungsweg begleitet.
Die digitale Transformation bietet eine noch nie dagewesene Fülle an Möglichkeiten, Wert für Kunden zu schaffen. Die Herausforderung besteht darin, den Überblick über diese unzähligen Möglichkeiten nicht zu verlieren, sondern eine zielgerichtete Digitalisierungsstrategie zu entwickeln, die definiert, welche Art von Wert für welche Art von Kunden geschaffen werden soll. Das Konzept des Jobs-to-be-Done, das bedeutet, in Bezug auf die “Jobs“ zu denken, die Kunden zu erledigen versuchen, hilft dabei, die Digitalisierungsstrategie zu definieren und die Digitalisierungsaktivitäten im gesamten Unternehmen auf dieses Ziel auszurichten.
Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, wie Sie die Brücke zwischen der Digitalisierungsstrategie des Unternehmens und der Produktstrategie schlagen können, nehmen Sie an der JTBD MASTER CLASS ADVANCED am 13. und 14. Oktober 2021 bei Worthington Industries teil. Wenn Sie interessiert sind, hinterlassen Sie uns hier eine Nachricht oder melden Sie sich direkt auf der Website an.
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